Patient Gesundheitssystem

In seinem neuesten Buch «Patient Gesundheitssystem» zeigt Gesundheitsexperte Karl Ehrenbaum auf, welche Faktoren auf die stetig ansteigenden Kosten im Gesundheitswesen einwirken und welche Rolle die verschiedenen Player dabei spielen.

Herr Ehrenbaum, vielen Dank dafür, dass Sie sich Zeit genommen haben, an diesem Interview teilzunehmen. Sie haben ein Buch zum „Patient Gesundheitssystem“ veröffentlicht. Können Sie uns in kurzen Worten schildern, worum es Ihnen bei diesem Buch geht und was Sie damit erreichen wollen?

Im Kern möchte ich mit meinem Buch aufzeigen, dass im Gesundheitswesen ein Perspektivwechsel nötig ist. Es sollten nicht einzelne Faktoren beleuchtet und bekämpft, sondern das System als Ganzes in den Blick genommen werden. Deshalb heisst das Buch auch «Patient Gesundheitssystem»: dieses System ist krank und sollte ganzheitlich geheilt werden.

In Ihrem Buch zeigen Sie unter anderem gewaltige Einsparpotenziale im Gesundheitswesen auf. Können Sie genauer ausführen, wie Sie sich die entsprechenden Einsparungen vorstellen und welche Überlegungen hinter den von Ihnen gemachten Schätzungen stecken?

In Sachen Gesundheitswesen sind wir uns gewohnt, punktuell vorzugehen und punktuell zu denken. Diese Punktualität führt zu Redundanzen, die sehr aufwändig und personalintensiv, für den Patienten unangenehm und in manchen Fällen sogar gesundheitsschädigend sind. So gibt es beispielsweise in der Stadt Zürich mehr MRI-Geräte als es in der gesamten Schweiz brauchen würde. Amortisieren kann man diese Geräte nur, wenn man sie benutzt, also benutzt man sie auch wenn es nicht unbedingt notwendig wäre. Die Strahlenschäden trägt der Patient. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die die Komplexität der Situation aufzeigen. Es gibt kein so kompliziertes Gesundheitssystem wie dasjenige der Schweiz.

Woran liegt das? Ist das historisch so gewachsen?

Der Schweizer ist sich gewohnt, immer alles vor Ort haben zu müssen. Das beginnt auf Gemeindeebene und zieht sich fort bis auf Kantonsebene. Nehmen wir beispielsweise die Kantone Appenzell-Innerrhoden und Appenzell-Ausserrhoden. Beide Kantone zusammen haben etwa gleich viele Einwohner wie Wallisellen. In dem einen Kanton hatte man ein Krankenhaus, im anderen hatte man keines. Weil man jetzt der Meinung ist, die Bewohner in Ausserrhoden würden nicht so gut behandelt wie die in Innerrhoden, will man dort ein neues Krankenhaus bauen. Kostenpunkt: CHF 80 Mio. Mehrwert für den Patienten: Null.

Welche Folgen können solche unnötigen Bauten haben?

Ein Stadtspital in Zürich, das mittels Volksabstimmung gebaut wurde, um ein anderes zu ersetzen, zeigt diese Thematik auf. Das neuere Spital hat heute eine Auslastung von ca. 40%. Allgemeinversicherte Patienten werden deshalb regelmässig in Einzelzimmern untergebracht. Da sägt man am eigenen Stuhlbein: Wozu soll man eine Privatversicherung haben, wenn die Allgemeinversicherten dieselbe Leistung beziehen? Zudem können sich die Leute solche Versicherungen auch nicht mehr leisten. Als ich in der Branche anfing, waren 85% aller Einwohner halbprivat oder privat versichert. Heute reden wir noch von 8% halbprivat Versicherten und 11% privat Versicherten. Wenn aber das umliegende Gebiet nicht über genügend privat Versicherte verfügt, um die Geräteausstattung zu amortisieren, dann ist von einer nicht kostendeckenden Situation die Rede.

Wer könnte diese Probleme Ihrer Meinung nach beheben? Wer ist der Hauptansprechpartner Ihres Buches?

Mir ist es wichtig, dass wir von der Schuldfrage wegkommen. Es bringt nichts, wenn sich die Player gegenseitig die Verantwortung in die Schuhe schieben. Stattdessen muss man analysieren, wo die Ursachen liegen, um dann gezielt gegen die Wirkungen anzugehen. Wirklich ändern kann man das System aber nur da, wo man es nicht gerne hört: in der Politik. Wie hoch ist die Wiederwahlchance eines Politikers, der vorschlägt, in seinem Wahlbezirk ein Krankenhaus zu schliessen?

In Ihrem Buch zeigen Sie mit einer eindrücklichen Grafik auf, dass zur Komplexität des Systems noch viele weitere Stakeholder beitragen. Welche sind das?

Neben den Bundesämtern und den Kostenträgern spielen auch die Versicherungsdeckungen mit den zugehörigen Gesetzen eine Rolle. Auch die Prävention, die Leistungsträger und die Kantone sind nicht zu vernachlässigen. Gerne vergessen gehen ausserdem der E-Commerce, die EU, die Wellness-Industrie, die Ernährungsindustrie. Und alle verdienen und rentieren nur, wenn sie etwas verkaufen. Jetzt ist es glaube ich klar, dass man eben nicht punktuell denken kann. Wenn man ein Zahnrädchen dreht, drehen sich alle anderen mit.

In Ihrem Buch erläutern Sie auch gesellschaftliche Trends, die zur Verschlechterung der Situation beitragen. Hierzu gehört beispielsweise eine Tendenz bei den Patienten, immer mehr und aufwändigere Untersuchungen zu fordern. Worauf führen Sie das zurück?

Es gibt bei den Versicherten eine gewisse Ambivalenz. Wenn man es selber nicht braucht, will man, dass die Kosten sinken, denn man bezahlt ja immer höhere Krankenkassenprämien. Sollte man aber eines Tages auf die Krankenversicherung angewiesen sein, wie beispielsweise nach einem Unfall, will man die Möglichkeiten des Gesundheitssystems voll ausschöpfen.

Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, damit die Einsparpotenziale durchgesetzt werden können?

Es braucht Massnahmen, die zu einer Gesamtverbesserung führen. Auch müssen die zur Verfügung stehenden Mittel effizienter verwendet werden. Man sollte ausserdem nicht nur die Behandlungskosten betrachten, sondern den ganzen wirtschaftlichen Aspekt eines Patienten. Man könnte beispielsweise das Alter und die Arbeitssituation des Patienten zu Rate ziehen, um festzulegen, wer zuerst behandelt wird. Wenn man bedenkt, dass die Behandlungskosten nur etwa 29% der anfallenden Kosten ausmachen und Lohnausfall und bleibende Schädigungen 71%, könnte es beispielsweise sinnvoll sein, Erwerbstätige vorrangig zu be- handeln, sofern dadurch nicht andere Patienten zu Schaden kommen. Aber das ist natürlich ein Theorem, da wir heute Überkapazitäten haben. Was es auf jeden Fall braucht, ist eine Gesamtbetrachtung aller Faktoren und Aufklärung über die Auswirkungen auch von individuellen Entscheidungen. Dass ein Patient auch im sehr hohen Alter den Wunsch hat, weiterzuleben, um vielleicht noch die Enkel aufwachsen zu sehen, ist völlig normal und nachvollziehbar, aber eben auch rein individuell, und eine Vollkostenrechnung über das Leben eines Patienten ist natürlich makaber. Deshalb gibt es keine Massnahme, die man generell verordnen kann, jedoch kann Aufklärung zu besseren Entscheidungen fuhren. Mein Buch soll eine Aufklärung sein, sowohl für die Leistungserbringer als auch für die Patienten.

Herr Ehrenbaum, wir danken Ihnen für das Gespräch.

 

Über Karl Ehrenbaum

Karl Ehrenbaum verfügt über ein breites Wissen zum Gesundheitsmarkt. Für die Zurich Versicherung baute er als Leiter Gesundheitsmarkt das erste europäische integrierte Versorgungsnetzwerk Medipoint auf. Zudem war er als Mitglied und in verschiedenen Führungspositionen in Fachgremien, Verbänden und Verwaltungsräten tätig.

Heute bringt er seine umfassende Expertise und Managementerfahrung als CEO bei Ehrenbaum Health Consulting ein, wo er im Gesundheitswesen tätige Organisationen in betriebswirtschaftlichen Fragestellungen berät. Für La Bella Consulting ist er als Experte im Bereich Versicherung und Gesundheit tätig.

Im Herbst 2018 veröffentlichte er gemeinsam mit Eduard Hauser das Buch: Patient Gesundheitssystem.

La Bella Consulting sieht Veränderungen als Chance und unterstützt Kunden methodisch in der Gestaltung von innovativen Produkten und Services. Das umsetzungsstarke und innovative Beraterteam legt Wert auf eine intensive Zusammenarbeit mit seinen Kunden. Das Ergebnis sind nachhaltige Lösungen mit denen sie Ihrer Zukunft einen Schritt voraus sind.

22. März 2019 / Victoire Stalder und Dr. Maria-Elisabeth Heinzer